Echte Lebenskünstler – Folge 2 der Serie KompassNatur
11.04.2024: Serie KompassNatur der Nationalpark- und Forstverwaltung Sächsische Schweiz von Sachsenforst und dem Dresdner Redaktionsbüro Draussenzeit: Flechten sind wahre Pioniere. Wo Leben möglich ist, tauchen sie auf. Sie halten Extreme aus und können sogar im Weltall überleben. Und wo sie sich vermehren, ist die Natur auf einem guten Weg.
Hier bin ich! So müsste man wohl die Botschaft lesen, die da an der Oberen Schleuse mit knallgelber Farbe am Felsen steht – direkt gegenüber der Kahnstation bei Hinterhermsdorf im Nationalpark Sächsische Schweiz. Wenn es denn eine Botschaft wäre. Von den 50.000 Menschen, die jedes Jahr an den Farbspuren vorbeikommen, hat kaum jemand einen Blick für sie übrig. Höchstens jemand wie Volker Otte. Die gelben Flecken sind kein Werk von Menschenhand, sondern das Leben selbst – in Gestalt einer riesigen Schwefelflechte. Und Otte ist Botaniker und Flechtenspezialist am Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz.
Dass die grellgelbe Lebensform an der Kirnitzsch kein Aufsehen erregt, ist im Grunde logisch: In der Sächsischen Schweiz sind Schwefelflechten (Chrysotrix chlorina) so gewöhnlich wie der Familienname Müller im Telefonbuch. Im bundesdeutschen Maßstab hingegen gelten sie als Seltenheit, sagt Volker Otte. Vor allem eine, über die man in der Wissenschaft noch kaum etwas weiß: Wie sie lebt. Wie alt sie wird. Seit wann und warum es sie gibt. Nur soviel ist sicher: Die Schwefelflechte gehört zu einer der ältesten Organismengruppen der Erde, deren Mitglieder es irgendwie schaffen, überall und unter teils extremen Bedingungen zu überleben: in Sand- und Eiswüsten, an glatten Felswänden, in 5000 Meter Höhe im Himalaya – sogar im Weltall, wie ein Experiment der Europäischen Raumfahrtagentur ESA gezeigt hat.
Flechten sind wahre Pioniere. Wo Leben möglich ist, tauchen sie auf. Fachleute wie die amerikanische Evolutionsforscherin Lynn Margulis vermuten deshalb, dass Flechten beim Etagensprung des Lebens vom Ozean aufs Festland vor gut 500 Millionen Jahren eine entscheidende Rolle gespielt haben. Dank einer in schwierigen Situationen bewährten Vorgehensweise: Teamwork. Flechten sind das Ergebnis einer engen Partnerschaft – einer Symbiose – zwischen Pilzen und Algen. Von einer solchen Symbiose profitieren beide Partner. Die Alge versorgt den Pilz mit Kohlenhydraten, im Gegenzug schützt der Pilz die Alge vor UV-Strahlung und gegen Austrocknung und hilft ihr, hartes Gestein in fruchtbare Erde zu verwandeln. Gemeinsam gelingt es ihnen so, auch die unwirtlichsten Orte zu besiedeln.
In den Görlitzer Sammlungen lagern rund 70.000 Flechtenproben – darunter extrem seltene und ausgestorbene Arten. Einige der wertvollsten Funde stammen aus der Sächsischen Schweiz. Dort hat Volker Otte vor Jahren bei einer Studie für die Nationalparkverwaltung eine besondere Entdeckung gemacht. In den urigen Schluchtwäldern der Kirnitzschklamm wuchs sie am Stamm einer alten Buche: Chaenothecopsis debilis – eine winzige stecknadelförmige Flechte, die bisher nirgendwo sonst in Deutschland bekannt war. Die Klamm ist ein Schlaraffenland für Flechten. Die Natur entfaltet hier auf engstem Raum eine Fülle, die ihresgleichen sucht. Alte Kiefern und Fichten recken sich an den Steilhängen empor, unten wachsen Hainbuche, Hasel und Grauerle. Unter moosgrünen Felsen fließt die Kirnitzsch über die Samtmatten des Haken-Wassersterns. Ein Wald wie im Urzustand.
Ideale Bedingungen für eine Vielzahl von Flechtenarten. Und wo viele Flechten sind, gibt es Lebensräume und Nahrung für eine Unzahl von Käfern, Würmern und anderen wirbellosen Tieren – die Wegbereiter eines gesunden Ökosystems. Auch das Polenz- und Weißbachtal, die Buchenwälder des Großen Winterbergs, der Uttewalder Grund oder die stillen Riffe der Thorwalder Wände und Bärfangwände sind kleine Flechtenparadiese. 279 Arten konnte Volker Otte im Nationalpark Sächsische Schweiz nachweisen. Zusammen mit dem angrenzenden Landschaftsschutzgebiet sind sogar an die 500 Arten in der Region belegt.
In anderen Teilen Sachsens ist die Fülle noch nicht so üppig. Luftverschmutzung und das großflächige Waldsterben in den 1970er- und 80er-Jahren haben auch der Flechtenvielfalt geschadet. „Aber sie kommt allmählich zurück“, sagt der Botaniker. Er sei überrascht gewesen, welchen Reichtum er sogar in stark besuchten Gebieten wie dem Großen Zschand vorgefunden habe. Umso wichtiger findet es Otte, dass der Tourismus im Nationalpark in geregelten Bahnen läuft – und manches Felsriff und Waldstück den Flechten, Moosen und ihresgleichen vorbehalten bleibt. Wo sie sich vermehren, ist die Natur auf einem guten Weg.
Text/Fotos: Hartmut Landgraf